Die Schweizer Psychologin Verena Kast hat ein wichtiges Modell des Trauerprozesses entwickelt, das aus unserer Sicht am besten darstellt, wie der Verlust eines geliebten Menschen verarbeitet wird. Daraus kann auch abgeleitet werden, wie und in welcher Weise Hilfe oder ein Umgehen mit dem Verlust möglich wird. Die Phasen sind bei jedem Menschen von unterschiedlicher Dauer und Intensität, aber im Wesentlichen in dieser Reihenfolge alle vorhanden.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Trauer um einen geliebten Menschen ein langwieriger, schwer zu verarbeitender Prozess ist. In dieser Zeit der Trauer helfen uns heute kaum noch Rituale, die in vergangenen Zeiten sicher einen anderen Umgang mit dem Verlust ermöglicht haben, auch in Bezug auf äußere Darstellung von Trauer. Wir schneiden uns nicht mehr die Haare ab oder legen nach 1 Jahr tiefschwarzer Kleidung dann langsam Gewänder in Lavendelfarben an. Aber die Trauer tragen wir doch in uns, auch wenn wir es nicht immer offen zeigen, auch wenn wir keine schwarze Armbinde oder keinen schwarzen Binder tragen. Die im wesentlichen in 4 Phasen eingeteilte Verarbeitung zeigt jeweils einen klaren Anfang und ein bestimmbares Ende, müssen aber nicht immer nacheinander ablaufen, können sich überschneiden. Aber auch ein Aussetzen einer Phase, ein Ruhenlassen für eine bestimmte Zeit, z.B. wenn sich neue Begebenheiten größerer Tragweite ergeben, die keinen Raum für die Bewältigung der Trauer lässt, ist nicht ungewöhnlich. Die Unterbrechung bewirkt keine Bewältigung der Trauer, sie ist weiter in uns und wird sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Erinnerung bringen.
1. Trauerphase: Nicht-Wahrhaben-Wollen
Wir nehmen den Tod immer als Schock wahr, ganz gleich, ob der Tod absehbar war oder plötzlich kam. In dieser Situation merkt man, dass man selbst hilflos ist und wenig bis gar nichts ausrichten kann. Menschen schützen sich, indem sie die Neuigkeit erst nach und nach an sich heranlassen. Auch ein völliges Leugnen ist eine Schutzfunktion. Einige Menschen geraten außer Kontrolle, schlagen auf Dinge ein oder brechen zusammen.
Während der 1. Phase, die umso länger dauert, desto unerwarteter der Tod eintragt, ist der Verlust auch körperlich messbar. Erhöhter oder rasender Pulsschlag, starkes Schwitzen, plötzliche Übelkeit, Erbrechen oder motorische Unruhe sind äußerliche Anzeigen. Nach einigen Stunden oder wenigen Tagen haben sich diese Symptome meist gelegt. Nur in Ausnahmenfällen treten diese Anzeichen auch noch nach einigen Wochen auf.
Mögliche Hilfen in dieser Phase
Schon die Beschäftigung mit dem alltäglich Notwendigen stellt für die Menschen eine Hilfe dar. Hierbei geht es nicht darum, den Tod durch emsiges Treiben auszublenden, sondern bietet eine Möglichkeit, den Verlust Stück für Stück an sich heran zu lassen. Nicht selten sind die Betroffenen jedoch überfordert und brauchen die Hilfe Dritter.
Hierbei muss es sich nicht um eine Überforderung bei der Regelung der im Zusammenhang mit dem Todesfall stehenden Angelegenheiten handeln, sondern auch bei alltäglichen Besorgungen kann schnell eine Überforderungssituation eintreten. Für helfende Angehörige oder Freunde ist es wichtig, da zu sein, jedoch Situationen der Bevormundung oder permanenter Nachfragen nach dem Befinden zu vermeiden. Einfach nur da sein und helfen heißt die Devise. Auch mal den Mund zu halten, auch wenn es schwerfällt. Jeder trauert anders. In dieser frühen Phase ist jede Überraschung möglich. Ein Trauernder muss erst seinen persönlichen Weg finden und das kann u.U. auch zu Belastungen der Angehörigen in der Nähe führen, die das aber aushalten müssen und meist auch können.
Wie bereits gesagt, trauert jeder anders und macht seine Trauer auch jeweils anders sichtbar. Tränen helfen. Viele von uns sind jedoch erst nach einiger Zeit in der Lage, den Tränen freien Lauf zu lassen. Wer denkt, dass das der einzige Weg zu trauern ist, irrt. Das Fehlen von Tränen ist keine Empfindungslosigkeit, am ehesten schon eine Blockade, die sich meist nach einiger Zeit von selbst lockert. Nicht alle von uns haben gelernt, Gefühle zu zeigen. Betroffenen hilft, dass sie sehen, dass auch andere an dem Verlust zu tragen haben.
2. Trauerphase: Aufbrechende Emotionen
Unbedingt Gefühle zulassen. Gefühle gehören zu unserem Leben dazu. Der Tod eines Angehörigen oder Freundes bringt diese Emotionen zutage. Hierbei ist nicht nur der Schmerz und das Leid spürbar, es können auch andere Gefühle Wut, Zorn oder Angst aufkommen. Sowohl die Persönlich als auch der Grad Trauerbewältigung bestimmen die Gefühle und die aufkommenden Fragen. Nicht selten kommen Vorwürfe gegen sich selbst, ja sogar gegen den Verstorbenen hoch. Sich im Stichgelassen fühlen, das Gefühl, vom Schicksal bestraft zu werden, sind hierbei die zentralen Fragen, denen gelegentlich auch eine gewisse Aggressivität folgt. Die Frage von Schuld oder verpasste Chancen. Aus denen Schuldgefühle entstehen können, stehen im Mittelpunkt. Lassen Sie diese Gefühle zu, sie gehören ebenso zur Trauerbewältigung wie die dazu gehörenden Antworten auf die gestellten Fragen. Sie helfen, die Situation besser zu verstehen und am Ende, auch wann das zu dieser Zeit noch nicht immer offensichtlich ist, zu bewältigen. Es hilft nicht, stark sein zu wollen und sich die Trauer nicht einzugestehen. Wer sich der Trauerarbeit verweigert, riskiert dauerhafte seelische Schäden. Häufige Folge: Depressionen.
Es hilft nicht, ein Trauernder muss da durch. Diese Phase dauert gewöhnlich einige Wochen. Auch eine längere Dauer, etwa mehrere Monate, ist nicht ungewöhnlich. Dauert diese Phase hingegen an, ist Vorsicht geboten. Hier empfiehlt sich unbedingt die Einholung ärztlichen Rates.
Was tun in dieser Phase?
Lassen Sie Gefühle zu, stellen Sie sich der Situation. Sie müssen sich Ihrer Gefühle nicht schämen, andere Menschen trauern ebenfalls. Eine Situation können man nur meistern, wenn man vor ihr wegrennt, auch wenn das vorerst einfacher erscheinen mag. Sie können sich Ihrer Gefühle auf verschiedene Weise bewusst werden, hier gibt es kein Rezept. Mit anderen Menschen reden und sich gemeinsam erinnern, gehört sicher zu den gängigsten Methoden. Andere hingegen drucken die Gefühle durch Schreiben oder Malen aus. Auch lange Wanderungen, ob allein oder gemeinsam mit anderen, helfen. Es hilft auch, über Schuldgefühlen oder Vorwürfe zu reden, da diese relativiert werden können. Auch wenn diese Phase lange dauern kann, übrig bleibt ein ehrliches Andenken an den Verstorbenen.
Was Sie nicht tun sollten
Unterdrücken Sie keine Gefühle, Sie werden Schaden an Ihrer Seele nehmen. Es hilft auch wenig, sich in Selbstmitleid und Vorwürfen zu ergehen. Als Angehöriger sollte man es tunlichst vermeiden, die Trauerarbeit zu unterbrechen, sich lustig zu machen oder selbst Vorwürfe zu platzieren. Alles das ist kontraproduktiv, selbst wenn einige Sachverhalte der Wahrheit entsprechen würden, so sollte man damit warten, bis es an der Zeit ist, auch darüber zu reden. Der Trauernde muss zunächst einmal wieder festen Boden unter den Füßen bekommen, alles weitere ergibt sich dann früher oder später. Es ist nicht die Aufgabe der anderen, den Trauernden fertig zu machen, sondern zu helfen und für den Trauernden Da-zu-sein. Ihn zu belügen, hilft auch nicht wirklich, eher mal nichts sagen, wenn man in der Situation ist, auch wenn das nicht einfach ist.
3. Trauerphase: Suchen und Sich-Trennen
Den Phasen der Orientierungslosigkeit und des Schmerzes folgt eine Phase der neuen Suche. Eine neue Suche bedeutet aber auch, wieder offen zu sein für etwas Neues; man ist bereit, loszulassen. Das bedeutet nicht, dass das Andenken des Verstorbenen verblasst, sondern das das Andenken weniger von Schmerz und Verlust geprägt ist. Viele schöne Momente kommen den Angehörigen wieder in Erinnerung. Der Verstorbene hat einen würdigen Platz in unserer Mitte gefunden und wird damit dauerhaft Teil unseres Lebens werden. Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie Charakterzüge oder körperliche Ähnlichkeiten des Verstorbenen in anderen Menschen entdecken, Menschen reagieren auch Verlust auch mit einer neuen Suche. Sie können diese Gemeinsamkeiten ebenfalls erfahren, wenn Sie an Orte zurückkehren oder sich an gemeinsame Erlebnisse erinnern, die Sie mit dem Verstorbenen verbinden. Viele Trauernde sind jetzt erst in der Lage, mit dem Verstorbenen zu reden, ihn über Neues zu informieren oder Rat einzuholen. Diese Form des miteinander Redens ist nur natürlich. Man zeigt damit seine noch immer starke Verbundenheit mit dem Verstorbenen. Diese Nähe kann ebenso schmerzlich wie herzergreifend schön sein. Gelegentlich treten beide Gefühle derart stark auf, dass man es kaum auszuhalten vermag.
In dieser Phase fällt es nicht mehr so schwer, über den Verstorbenen zu reden. Natürlich spielen Jahrestage eine große Rolle in unserer Erinnerung. Sätze wie: Vor einem Jahr haben wird dieses und jenes zusammen gemacht, dienen der Erinnerung und helfen bei der Bewältigung der Trauer auch dann noch. Gemeinsame Familienfeste ohne den Verstorbenen bleiben auch weiterhin eine schmerzliche Erfahrung, die Lücke ist hier besonders spürbar. Doch auch hier wird der Schmerz nach und nach der Erinnerung weichen.
Suchen Sie diese Momente, suchen Sie nach Gemeinsamkeiten, erzählen Sie Ihren Kindern und Enkeln davon. Je mehr Sie für sich finden und weitergeben können, je mehr gegen Sie auch von Ihrem Leben weiter und umso leichter fällt meist die Aufarbeitung. Denken Sie daran, dass Sie den übrigen Familienmitgliedern verbunden sind und wieder für Sie da sein müssen. Seien Sie nicht verwundern, wenn sich suizidale Gedanken in den Vordergrund drängen. Damit sind Sie nicht allein. Sie sollten wissen, dass diese Gedanken vorüber gehen, besonders, wenn Sie sich auf Ihre Familie und Freunde besinnen, die Sie genauso brauchen, wie Sie in dieser schweren Zeit andere gebraucht haben. Diese Phase kann Wochen, Monate oder Jahre dauern, aber am Ende siegt der Wille, wieder am Leben teilhaben zu wollen.
Mögliche Hilfen in dieser Phase
Zeit für Aufarbeitung ohne Kompromisse. Alles in der Vergangenheit vorgefallene darf jetzt offen ausgesprochen werden. Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei. Jetzt geht es aber nicht darum abzurechnen, sondern einen unverstellten Blick auf die Situation, auf die Beteiligten und auch auf den Verstorbenen zu bekommen. Aufarbeiten heißt auch zuhören und reden, auch wenn man die Geschichten zum x-ten Mal durchgeht, man kann nur durch die Auseinandersetzung einen klaren Blick bekommen, auch auf Dinge, die nicht angenehm sind und einer wohlmeinenden Erinnerung im Weg stehen. Wie gesagt, es geht nicht um Verklärung, sondern um einen unverstellten Blick, frei von Schleiern und Zerrbildern. Auch hier gilt, dass Dinge ihre Zeit brauchen. Es gibt keine Abkürzung und keine Überholspur. Es dauert, solange es dauert. Es hilft, wenn man als Angehöriger oder Freund Anregungen und Hilfestellungen anbietet, es hilft nicht, die Trauerarbeit übernehmen zu wollen.
4. Trauerphase: Neuer Selbst- und Weltbezug
Jetzt ist es fast geschafft, die Umstand, dass für alle anderen das Leben weiter gehen muss, hat gesiegt. Doch nach der Erfahrung ist man nicht mehr der gleiche Mensch. Diese Erfahrung verändert nachhaltig, zurück bleibt nicht nur eine andere Sicht auf das Leben, sondern auch auf sich selbst. Meist wird man sich der Tatsache der eigenen Endlichkeit stärker bewusst und handelt danach. Jetzt ist Zeit, sich um Dinge zu kümmern, die man schon immer einmal machen wollte und die keinen Aufschub dulden. Nicht selten verändern Menschen nachhaltig ihr Leben und wechseln auch schon mal den Beruf
Der Verstorbene bleibt ein Teil dieses Lebens und lebt weiter in den Erinnerungen und im Gedenken.
Mögliche Hilfen in dieser Phase
Zu der Neuorientierung gehört auch, dass die Hilfe und der Beistand von außen nicht mehr benötigt wird. Es ist für Helfer nicht immer leicht, zu begreifen, dass sich seine Rolle ändert. Als Freund oder Familienmitglied ist er weiterhin willkommen, jedoch nicht mehr für die Bewältigung der Trauerarbeit. Nicht immer können die Helfer loslassen. Deutliche Anzeichen für die Verarbeitung sind Veränderungen im Beziehungsnetz des Trauernden und ein Ende des sichtbaren Trauerns. Zusammen sollte man versuchen, die Trauerarbeit zu beenden. Meist können alle mit einigem Stolz zurückblicken. Durch ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Offenheit und Flexibilität gelang die Bewältigung der Trauer, ob Trauerrituale aus unserem Alltag weitgehend verschwunden sind und diese daher durch eigenes Handeln ersetzt werden müssen.
Quelle: Trauerbuch von Verena Kast